TikTok hat die Mutter aller Social-Media-Plattformen in Sachen Downloads längst überholt. „Wir wollen jedem eine kreative Heimat bieten“, sagt David Roland, Head of Brand der Durchstarter-App für den deutschsprachigen Raum, über das Erfolgsrezept. Dahinter steckt ein anderer Algorithmus: Origineller Content wird belohnt, nicht zwangsläufig die Reichweite. Gerade dadurch wird TikTok als Plattform für seine User aber auch für Unternehmen interessant.
Aus dem Thema Suchtpotenzial macht David Roland keinen Hehl: „Es ist wie Chips essen“, sagt der Kreative, der vor zwei Jahren bei TikTok einstieg: Eigentlich wolle man nur drei, vier Stück nehmen, plötzlich ist die Tüte leer. Übersetzt in die Welt der Kurzvideos heißt das: Im Schnitt verbringen die User 80 Minuten am Tag mit ihrer Lieblings-App, „das ist mehr als bei Netflix“, schwärmt Roland. Gut 300 Clip-Chips demnach, sieben Mal die Woche. Deshalb gibt er auf Nachfrage auch gerne Ratschläge, wie man den Konsum der eigenen Kinder zu Hause einschränken kann.
„Wir sind schon stolz, was auf unserer Plattform passiert“, sagt Roland. Der Erfolg übertraf die kühnsten Vorstellungen sogar noch. Im Gespräch mit Sven Schäferkord, Managing Director von Pacific Entertainment, einer Agentur, die Creators und Unternehmer zusammenführt, nennt Roland aktuelle Zahlen: 1,2 Milliarden monatliche Nutzerinnen und Nutzer, 100 Millionen in Europa, aktiv ist TikTok in insgesamt 150 Ländern – es handelt sich fraglos um einen Global Video-Player. Und das, obwohl der europäische Ableger während der Pandemie weitgehend in sozialer Distanz, über Zoom-Meetings, aufgebaut wurde. Übrigens: Man befinde sich gerade erst in „Kapitel eins der gesamten Entwicklung“. Die Plattform sieht jede Menge Entwicklungspotenzial.
Die Zeiten, in denen es auf TikTok fast nur Tanzvideos und LipSync zu bestaunen gab, sind sowieso schon lange vorbei. Das Publikum wird allmählich älter, weil die Kinder ihre Eltern an TikTok heranführen. Roland arbeitete auch schon bei Google, ihn erinnert die aktuelle Diskussion über TikTok an die, die einst über den heutigen Giganten Youtube ausbrach.
Die große Stärke von TikTok ist die Ungezwungenheit, mit der die meisten Videos daherkommen. Die kollektive Kreativität der User verströmt eine Lässigkeit, der sich eben auch die nichtprivaten Mitglieder hingeben müssen. „Ein Unternehmen hat da eine große Chance“, sagt Roland zum Thema Co-Creation. Zurzeit passiere es noch, dass ein Unternehmen sage: Wir haben doch bei euch noch gar keine Plattform. „Und dann zeigen wir ihnen, was mit ihrer Marke bei uns schon alles passiert“, erzählt Roland. Ohnehin ein Trend, der im technologie-betriebenen Markt zur Normalität geworden ist: Das eigene Produkt ist schon angekommen, bevor es das eigene Haus platziert hat.
Eine mögliche Annäherung an TikTok ist die Strategie, die etwa Gucci wählte: Der Mode-Riese lud die Beiträge über seine Produkte im eigenen Kanal hoch, auch dann, wenn Aussage oder Stil der Clips nicht so recht zur eigenen Marketing-Strategie passen wollten. Zweitens: Die User der besten Clips wurden danach als Models für die nächste Kollektion ausgewählt. Eine Win-win-Situation, denn damit holte Gucci vor allem jene ins Boot, die bereits eine enge Bindung zur Marke hatten – und meistens eine große Reichweite haben. Ein gutes Beispiel also dafür, was viele unternehmerische Vordenker schon öfter in vergangenen SHIFT-Konferenzen ankündigten: Relevanz erreicht man innerhalb einer jüngeren Zielgruppe vor allem, indem man sich selbst „elastisch“ hält und nicht mehr alles vorgibt, sondern User und Creator aktiv mitbestimmen lässt. Und sich selbst nicht zu ernst nimmt. Denn die erfolgreichsten Clips auf TikTok, sagt Roland, das seien nicht Hochglanz-Werbespots, sondern eher die Pannen, die bei der Produktion entstanden.
Wohin die Reise geht? Niemand könne das sagen, dafür verläuft sie nämlich viel zu rasant und dezentral. Manche Hypes bekomme man selbst erst mit, wenn Unternehmen den Ausverkauf eines Produktes melden, so geschehen mit einem Getränk von Volvic. Oder, das ist auch bei David Roland so, über die eigenen Kinder.
Sicher sei jedoch, dass Angehörige der Generation Z über TikTok besser zu erreichen seien als über facebook, teilweise auch schon besser als über Instagram. Live-Events sind etwas, was die Macher im Hintergrund gerade genauer beobachten, E-Commerce werde ein großes Thema werden, sogar „sehr schnell“, so Roland. Die Community erwarte aber auch Content zum Thema Nachhaltigkeit. Die Entwicklungsmöglichkeiten sind also mannigfaltig. Roland glaubt auch deshalb, dass TikTok, im Gegensatz zu manchem medialen Konkurrenten, erstmal ohne die klassische externe Werbung bestehen kann.
Am Schluss geht Roland auf eine kritische Frage ein, weil es wichtig sei, dieses Ressentiment abzubauen, das in den TikTok-Anfängen begründet liegt: die vermeintliche Abhängigkeit von China, damit einhergehend die Frage des Umgangs mit Menschenrechten und möglicher Zensur. „Die Daten liegen nicht in China, sie liegen in den USA und in Singapur. Ein weiteres Datencenter wird nächstes Jahr in Irland eröffnet.“ Die Arbeitsprozesse seien losgelöst von China. Es gibt zwar auch noch den Ableger Douyin. Trotzdem ist ausgerechnet TikTok aktuell ein Beispiel dafür, wie stark ein Markt wachsen kann, ganz ohne das bevölkerungsreichste Land der Erde.